6. Wiedersehen
Musiktipp:
https://www.youtube.com/watch?v=4l3Zui99fvE (Led Zeppelin - Ten Years Gone)
Nach dem Konzert genehmigte sich Rebecca noch ein Glas Champagner im Foyer. Sie dachte an Marlenes Performance als Christine Daaé, die zusammen mit ihrem Verehrer, dem Phantom, ein fulminantes Duett gesungen hatte. Zehn volle Jahre war es nun her, dass sie damals mit Thore Hellström und Marlene mit ihrem Bruder Tristan geschlafen hatte. Kurz darauf hatte sie Düsseldorf verlassen, was das Ende ihrer Beziehung bedeutet hatte. Sicherlich, es war nicht alles perfekt gewesen zwischen ihnen, aber welches Paar konnte das schon von sich behaupten? Und wenn sie es taten, logen sie bestimmt. Sie und Marlene, das ging damals so tief, und im Nachhinein gab Rebecca sich selbst die Schuld daran, dass die Beziehung schließlich gescheitert war. Wie oft hatte Marlene ihr signalisiert, dass bei all der Arbeit, die Rebecca sich aufhalste, ihre Beziehung auf der Strecke blieb? Aber für Rebecca war die Beziehung zu Marlene zu etwas Selbstverständlichem geworden, und das war ein großer Fehler. Die stärkste Liebe schwächelt, wenn man sie nicht pflegt. Das wusste Rebecca. Waren ihre Seitensprünge nicht ein verzweifelter Aufschrei beider, um von jeweils anderen wieder wahrgenommen zu werden? Nein, sie hatten danach nicht ausführlich darüber gesprochen, ihre Beziehung für beendete erklärt.
Ein Raunen, das durch das Foyer ging, riss Rebecca aus ihren Gedanken. An einer der Türen bildete sich eine große Menschentraube, es gab Blitzlichtgewitter, Beifall. Rebecca streckte den Hals, um sehen zu können, wer da gerade den Raum betreten hatte. Mit einem Kribbeln im Bauch stellte sie fest, dass es Marlene war, die die Glückwünsche entgegennahm, geduldig die Fragen der Reporter beantwortete und ganz nebenbei sogar noch das ein oder andere Lächeln für die Fotografen übrig hatte. Ja, Marlene war in ihrem Element. Jetzt, im warmen Licht des Foyers sah sie sogar noch atemberaubender aus, als auf der Bühne, stellte Rebecca bewundernd fest. Das, und, dass Marlene glücklich war. Ja, sie gehörte auf die Bühne. Rebecca überlegte, ob sie vielleicht zu Marlene gehen sollte, sie beglückwünschen sollte, mit ihr reden sollte, mit ihr Wiedersehen feiern sollte. Aber die Zweifel waren groß, sehr groß. Was, wenn Sie sich nichts zu sagen hätten, sondern sich nur peinlich berührt anschweigen würden? Nein, Rebecca entschied sich dagegen. Zuviel Zeit war vergangen, und Marlene hatte augenscheinlich auch ein neues Leben begonnen. Rebecca prostete Marlene aus der Ferne zu, trank den letzten Schluck Champagner und stellte dann das Glas ab. Sie warf Marlene einen letzten Blick zu. „Mach’s gut, Marlene! Schön, dich wiedergesehen zu haben! Leb wohl“, dachte Rebecca, als sie sah, wie Marlene gerade ihr wunderschönes Lächeln aufsetzte. Sie drehte sich um, atmete durch, drängte ihre nostalgischen Gefühle zurück, und schritt langsam Richtung Ausgang. Sie hatte die Pforte schon fast erreicht, als sie merkte, dass die Natur ihren Tribut einforderte. Rebecca sah sich nach dem entsprechenden Hinweisschild um, und folgte den Pfeilen.
Rebecca richtete gerade ihr Kleid zurecht, als sie in ihrer Kabine innehielt. Die Tür war soeben aufgegangen, und jemand schritt, zumindest hörte es sich für die Stardesignerin so an, zum Waschbecken. Sie hörte ein schweres Durchatmen. Vielleicht brauchte diese Frau Hilfe. Vorsichtig öffnete Rebecca die Tür, und lugte hinaus. Rebecca konnte ihren Augen nicht trauen: Dort stand…sie. Die Frau im weißen Kleid mit den langen, blonden Haaren, die das Phantom auf der Bühne begehrt hatte. Aber ihr Lächeln, das sie ihren Anhängern zuvor mit einer Leichtigkeit par excellence präsentiert hatte, war verblasst. An seine Stelle war Müdigkeit getreten, vermischt mit Unsicherheit, und Schwäche. Rebecca konnte diese Mimik nach all den Jahren immer noch deuten. Sie hatte diesen Gesichtsausdruck damals so oft gesehen. Marlene hatte so viel durchstehen müssen, und hatte nach außen hin immer die Starke gegeben, die anderen noch eine Stütze war. Aber Rebecca, Rebecca konnte hier diese Maske schauen. Marlene hatte die Augen gesenkt. Rebecca öffnete langsam die Tür, trat hinaus, kam auf Marlene zu, und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Marlene zuckte kurz zusammen, und ergriff dann die Hand. Sie hob den Blick, und schaute in den Spiegel, wer da zu ihr gekommen war. Wer ihr jetzt, in ihrem Moment der Schwäche die Hand reichte. Ihre Augen weiteten sich vor Verwunderung, als sie erkannte, wer da hinter ihr stand. Sie wirbelte herum, und schaute in die Augen, die ihr einst so vertraut waren.
„Rebecca?“, fragte Marlene ungläubig.
„Ist das ein Traum?“ Rebecca sah Marlene an und schüttelte den Kopf.
„Ich bin wirklich hier!“, antwortete Rebecca gedämpft.
„Rebecca!“, rief Marlene jetzt erfreut und umarmte ihre einstige Weggefährtin.
Rebecca schloss die Augen, und genoss die Marlenes Nähe. Sie sog Marlenes Duft ein. Es war ein Duft nach einem Hauch von Rosen, die sich sanft im Sommerwind wogten. Nach einigen Sekunden lösten sie die Umarmung. Marlene traute ihren Augen immer noch nicht.
„Was machst du hier?“, wollte Marlene wissen, ein Funkeln in den Augen.
Da war es wieder, ihr bezauberndes Lächeln.
„Ich lebe seit letzter Woche wieder in New York!“, erzählte Rebecca.
Marlene sah sie an.
„Wirklich? So richtig? Ich meine…“
Rebeccas Blick trübte sich etwas ein.
„Ja, ich habe Königsbrunn und Düsseldorf den Rücken gekehrt…“
Aber dann lächelte sie Marlene an.
„Ich habe deinen Auftritt gesehen. Gratulation! Es scheint richtig gut für dich zu laufen. Das freut mich für dich! Du kannst also wieder singen?“, wollte Rebecca wissen.
Marlene nickte.
„Seit fünf Jahren. Es ist viel passiert…“
„Wem sagst du das…“, dachte Rebecca.
Beide sahen sich glücklich an. Sofort hatten sie wieder diese Vertrautheit zwischen sich gespürt.
„Es ist so toll, dich wieder zusehen!“, stellte Marlene glücklich fest.
„Es ist auch toll, dich wieder zu sehen!“, gab Rebecca glücklich zurück.
Dann wurde sie aber besorgt.
„Marlene…was war das gerade?“, fragte sie, und nickte kurz zum Waschbecken, an dem Marlene gestanden hatte.
Marlene schüttelte lächelnd den Kopf.
„Nichts, ich brauche nur ab und zu einen Moment für mich. Das ist alles!“, versicherte sie Rebecca.
Rebecca sah sie misstrauisch an.
„Wirklich!“, unterstrich Marlene ihr Argument.
In diesem Moment klopfte es sanft an der Tür.
„Honey? Bist du da drin?“
Rebecca sah verwirrt zur Tür, aber Marlene hatte schon geantwortet.
„Ja, Brad, ich bin hier!“
Marlene checkte kurz ihr Make Up im Spiegel. Rebecca warf Marlene einen verwirrten Seitenblick zu. Bevor sie allerdings fragen konnte, ging die Tür auf, und ein großer, schlanker Mann mit dunklem, zurückgegeltem Haar sah sich vorsichtig in der Damentoilette um. Als er Marlene erblickte, hellte sich seine Miene auf.
„Da bist du ja, Honey!“
Er kam zu Marlene und umarmte sie.
„Das war ein großartiger Auftritt!“, komplimentierte er ihr.
Rebecca stand etwas deplatziert daneben.
„Danke, Sweetheart!“, entgegnete Marlene.
Die beiden küssten sich. Marlene trat einen Schritt zurück und stellte die beiden mit einer Handbewegung vor.
„Brad, das ist Rebecca von Lahnstein. Rebecca, das ist Bradley Malone…“
Bradley lächelte freundlich und reichte Rebecca die Hand, und, als sie ihm ihre reichte, gab er Rebecca einen charmanten Handkuss.
„…mein Mann.“