„Stella Mann, wer spricht da?“ Stella beantwortete wie immer einen Anruf auf ihrem Handy, ohne vorher nachzusehen, wer sie erreichen wollte.
„Entschuldigung…“, sagte Carla und machte sofort eine Pause.
„Wer ist denn da?“, fragte Stella. Die Verbindung war mehr als schlecht, wurde von einem Lauten Rauschen begleitet.
„Sie hatten gesagt, ich könnte Sie anrufen, wenn…“
„Frau von Lahnstein. Ist etwas passiert?“
„Könnten Sie vorbeikommen?“, fragte Carla. Sie wollte mit jemandem reden, aber nicht mit den fremden Personen, die ihr bekannt vorkommen sollten. Lieber mit einer Person, an die sie sich erinnern konnte- wenn das das richtige Wort dafür war. „Vergessen Sie es bitte. Ihr Verlobter möchte bestimmt auch Zeit mit Ihnen verbringen. Es tut mir leid.“ Sie hängte das Telefon wieder ein. Diese Krankenhaustelefone behagten ihr nicht. Jeder konnte mithören, wenn er an ihrem Zimmer vorbeiging.
Sie legte sich wieder hin. Sie versuchte krampfhaft das einzige klare Bild in ihrem Kopf zu analysieren. Diese Frau und dieser Mann, die sich liebten, weil sie glaubten sie wären alleine gewesen. „Wer seid ihr?“, sagte Carla leise vor sich hin. Sie hatte die beiden nur von hinten gesehen. Und eigentlich war sie sich sicher, dass ihr volles Gedächtnis ihr auf die Sprünge helfen würde. Nur wer half ihrem Gedächtnis auf die Sprünge, zurückzukehren.
„Entschuldigen Sie, ich muss da rein“, hörte Carla ein dumpfes Gespräch auf dem Flur. Es war etwa eine halbe Stunde vergangen, seit sie Stella angerufen hatte. Aber wenn sie genau überlegte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie hergekommen war.
Es klopfte an ihre Tür. „Gräfin Lahnstein? Hier ist eine junge Dame, die Sie unbedingt sprechen möchte.“
„Okay“, antwortete Carla knapp.
„Sehen Sie, ich habe es doch gesagt“, meinte Stella patzig zur Krankenschwester und trat ein. „Wie geht es Ihnen? Sie klangen am Telefon etwas besorgt.“
„Es…ist merkwürdig, aber ich hatte das Bedürfnis zu reden und da sind Sie mir als erstes eingefallen.“
„Soll ich vielleicht herausfinden, in welchem Hotel Ihre Familie abgestiegen ist?“
„Nein! Bitte. Ich kenne diese Leute nicht.“
„Aber mich kennen Sie doch auch nicht.“
„Sie sind mir dennoch vertrauter. Ich weiß, so sollte es nicht sein. Aber solange ich mich nicht erinnern kann, sind diese Personen mir genauso fremd, wie Sie. Nur mit dem Unterschied, dass es mir vor Ihnen nicht peinlich ist, dass ich mich nicht entsinnen kann.“
„Auf eine verrückte Weise finde ich das sogar sehr verständlich.“
„Ich würde Sie gerne um etwas bitten.“
„Aber natürlich. Gern. Alles was in meinen Möglichkeiten ist.“
„Könnten Sie via Internet ein Foto meiner Familie suchen? Eines mit allen Familienmitgliedern? Vielleicht sogar mit Angestellten- falls wir solche haben. Ich muss etwas herausfinden.“
„Natürlich. Brauchen Sie sonst noch etwas? Trinken? Essen?“
„Danke, aber nein danke. Ich will nur endlich rausfinden, woran ich mich erinnern sollte.“
„Ich hoffe, ich kann Ihnen bis morgen Neuigkeiten bringen. Ich werde mich gleich an die Arbeit machen.“
„Haben Sie vielen Dank. Und grüßen Sie ihren Verlobten von mir und sagen Sie ihm, dass es mir leid tut, dass ich Sie heute Abend von ihm weggeholt habe.“
„Ach, es gibt nichts, was Ihnen leid tun muss. Jules ist auf seinem wöchentlichen Männerabend. Eigentlich haben Sie mich sogar vor einem langweiligen Fernsehabend gerettet.“
„Wenn das so ist, Sie dürfen gerne noch ein Weilchen bleiben. Es tut gut mit jemandem zu reden, der nichts von einem verlangt.“
„Die Einladung nehme ich gerne an“, antwortete Stella lächelnd.
Es war zu schade, dachte Carla. Bevor sie wusste, dass sie selbst verheiratet war, war das einzige Hindernis der Freund dieser relativ unbekannten Schönheit. Sie konnte selbst jetzt nicht anders, als Stella unentwegt anzusehen. Ihre Augen faszinierten sie. Das goldblonde Haar schmeichelte ihrem Teint. Das süße Lachen ließ sie kindlich wirken.
„Sagen Sie, wie üblich ist es, dass man einer Gräfin das Du anbietet?“
„Ich verstehe nicht ganz…“
„Ich finde dieses alberne Gesieze langsam lästig. Ich möchte mich Ihnen nicht aufdrängen, aber bitte nennen Sie mich Stella, Gräfin Lahnstein.“
„Das ist ein sehr hübscher Name. Aber sann bestehe ich darauf, dass Sie mich- dass du mich Carla nennst.“
„Aber schickt sich das für eine Adelige?“
„Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Aber ich fühle mich nicht wie eine Gräfin, sofern ich mich deswegen anders fühlen sollte. Und ich glaube selbst wenn es so wäre, könnte ich es doch selbst entscheiden, oder nicht?“
„Da mögen Sie Recht haben. Verzeihung. Da magst du Recht haben. Also dann, Carla, es ist sehr nett dich kennen zu lernen.“
„Das finde ich auch, Stella.“
„Guten Morgen, Carla- wie hast du geschlafen?“
„Gut“, antwortete Carla knapp. Stella war gegen 23 Uhr gegangen, mit dem Versprechen heute Abend wieder zu kommen, mit den Fotos.
„Wie geht es dir? Kannst du dich an irgendwas erinnern?“, fraget Susanne.
„Nein. Es tut mir leid.“
„Du musst dich dafür nicht entschuldigen. Ich bin vielleicht einfach nur zu ungeduldig.“
„Ist euer Hotel schön?“, fragte Carla. Sie wollte unbedingt von sich ablenken.
„Ich finde es zu übertrieben. Du weißt, ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, nun die Frau einer Gräfin zu sein.“
„Nein. Das weiß ich nicht.“
„Entschuldige. Das war dumm von mir.“
„Ist schon gut. Vielleicht kannst du mir von unserer Hochzeit erzählen?“
„Gerne.“ Susanne holte sich einen Stuhl an Carlas Bett und setzte sich. „Es war vor etwa anderthalb Jahren.“
Carla stutze. Diese ungenaue Beschreibung war irgendwie komisch, für einen Hochzeitstag.
„Ich weiß es genau. Der 20. August war unser Tag. Es schien die Sonne, aber es war zum Glück nicht zu heiß. Alle waren anwesend. Familie, Freunde. Selbst Lisa, Paul und Anne waren aus Südfrankreich angereist. Und sogar meinen Vater konnten sie dazu überreden, obwohl er dagegen war. Er findet deine- unsere- Familie nicht besonders nett. Elisabeth hat ihn für deinen Vater verlassen.“
„Oh…“
„Aber letztendlich ist er doch gekommen. Du standst am Treppenabsatz in einem weißen Kleid. Deine Haare hattest du streng zurückgebunden zu einem Knoten. Keine einzige Locke wagte es, sich aus der Frisur zu schleichen. Ich glaube, wir haben um die Wette gestrahlt.“
„Hattest du auch ein Kleid an?“
„Ja. Nach langem Überlegen hatten wir uns darauf geeinigt, dass wir beide ein Kleid tragen, schließlich sind wir beide Frauen.“
„Das ist schön“, antwortete Carla. Sie meinte es auch so und glaubte, sie würde sich wieder so entscheiden. Und schon flogen ihre Gedanken zu Stella.
„Soll ich weitererzählen?“, fragte Susanne. Carla wirkte geschlaucht.
„Ich würde gerne ein wenig schlafen. Mein Kopf dröhnt immer noch. Der Handwerker ist wohl noch nicht fertig.“
„Der Handwerker?“, fragte Susanne irritiert nach.
„Ach, das hat Stella gestern gesagt, als ich meinte, dass es in meinem Kopf ständig hämmert.
„Diese blonde Frau, die dich gefunden hat?“
Carla nickte.
„War sie nochmal hier?“
„Kurz, ja. Ich bat sie um einen Gefallen.“
Susanne wurde hellhörig. Es gefiel ihr nicht, dass Carla so von dieser Frau erzählte, solange sie sich nicht an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnerte. „Gefällt sie dir?“
„Was?“
„Gefällt sie dir, diese Stella.“
„Das ist lächerlich“, entgegnete Carla. „Ich bin verheiratet, und ich werde mich bestimmt daran erinnern.“ Sie wusste nicht, wen sie mehr überzeugen wollte. Susanne oder sich selbst. Aber was sollte sie tun? Es war nicht so, dass sie Stella körperlich anziehend fand. Es war einfach nur dieser Bezug zu ihr, weil all ihre Erinnerungen im Dunkeln schlummerten. „Ich würde mich gerne ein wenig ausruhen.“
„Natürlich. Ich komme morgen wieder, versprochen“, sagte Susanne, gab Carla einen Kuss auf die Stirn und ging mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.
_________________ “If you live to be a hundred, I want to live to be a hundred minus one day so I never have to live without you.” https://www.fanfiction.net/s/8764822/1/Two-In-A-Million
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