Kapitel 97: Prisoner in your cage
Ansgar sah sie zunächst verständnislos an, wusste nicht, was sie vorhatte als sie begann, Sachen in eine Reisetasche zu packen, doch dann begriff er. Sie wollte das Schloss verlassen, ihn verlassen. „Was machst du da?“, fragte er sie. „Wonach sieht es denn aus?“, gab sie zurück, patziger als beabsichtigt. „Ich gehe. Das ertrag ich hier nicht mehr. Nicht so.“ Mit einem Satz war Ansgar aus dem Bett. „Wo willst du hin?“, wollte er wissen. Victoria spürte wie ihr schon wieder die Tränen kamen. Ärgerlich wollte er sie wegwischen, doch Ansgar hatte es gesehen. Es war, als würde ein Schalter bei ihm umgelegt werden. Sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig, sein Gesicht nahm weichere Züge an; er sah sie betroffen an. „Bitte, geh nicht“, war alles was er hervorbrachte. Victoria sah ihn verwundert an, bemerkte die Veränderung in seinem Tonfall. „Ansgar, ich habe Verständnis für dich, ich weiß, was du durchmachst, aber ich habe auch Gefühle, und es tut mir weh, dass du in mir nichts anderes siehst als deine Bettgenossin, die du nur dafür missbrauchst, wenn du dich abreagieren willst, oder meinst du, ich merke nicht, wie du mit mir umgehst? Du pampst mich in der Firma an, du bist extrem verletzend in deiner Wortwahl mir gegenüber, und wenn du mit mir schläfst, bist du fast brutal. Und ehe das noch mehr eskaliert, gehe ich.“
Ansgar streckte die Hand nach Victoria aus. „Bitte. Geh nicht. Lass uns reden“, versuchte er es noch einmal. „Ich habe es doch versucht. Die ganzen letzten Monate habe ich es versucht. Aber du hast mich nicht an dich herangelassen.“ Ansgar sah zu Boden. Sie hatte Recht. Er wusste, dass sie Recht hatte. Er hatte sie verletzt, sehr verletzt. Er wusste, dass sie mehr für ihn empfand als er für sie. Und doch konnte er es nicht ändern, ungeschehen machen, wie er sich verhalten hatte. „Ansgar, ich liebe dich. Ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist, ich weiß, dass es unpassend ist, ich weiß, dass du diese Gefühle nicht erwidert kannst, zur Zeit nicht und vielleicht nie, aber ich habe sie nun mal. Und ich eh ich zu Grunde gehe, gehe ich.“
Ansgar sah sie nur stumm an. In Victorias Augen schimmerten Tränen, sie sah zur Seite, wollte nicht, dass er das Gefühlschaos sah, in dem sie sich befand. Ansgar streckte wieder die Hand nach Victoria aus, wollte sie an sich ziehen, aber sie wehrte ihn ab. „Bitte…“, flüsterte er noch einmal. Der Tonfall seiner Stimme ließ Victoria zögern, sie blieb stehen. Sie hatte Ansgar erreicht mit ihren Worten, seit Wochen das erste Mal. „Ich gehe unter ohne dich“, sagte er ernst. Victoria spürte, dass er sich grade selbst offenbart hatte und spürte, dass sie endlich einen Zugang zu ihm gefunden hatte. „Ich meine das Ernst, Vicky.“ Vicky, er hatte Vicky zu ihr gesagt, was er sonst nie tat. Sie wand sich wie eine Schlange in ihrem Gefühlschaos, doch ein Blick in seine bittenden Augen genügte, und sie wusste, sie konnte ihn nicht verlassen.
„Du weißt gar nicht wie es in mir aussieht. Ich weiß, daran bin ich selbst schuld, weil ich niemanden mehr an mich herangelassen habe, aber jetzt tu ich es. Ich möchte reden mir dir, mit wem sollte ich es sonst tun?“ Ansgar sah so verzweifelt aus, dass Victoria ihn am liebsten an sich gerissen hätte, aber sie hielt sich zurück, wollte ihn „kommen“ lassen. Ansgar holte tief Luft und sagte dann: „Ich fühle mich so leer, als wäre ein Teil von mir abgestorben, mit Amber gestorben, und das macht mir Angst, Victoria, große Angst. Ich kenne so etwas nicht von mir. Nathalie hat mich verlassen, und mir ging es dreckig, aber ich habe doch nicht meinen Lebenswillen oder so etwas verloren, obwohl ich gelitten haben wie ein Hund. Aber ich habe mein Image als Dreckskerl sofort wieder aufgenommen und mein Leben gelebt, genau wie bei Lydia. Sicher, es tat weh, als die Frauen eine nach der anderen aus meinem Leben entschwunden sind, aber ich habe mich nie so gefühlt wie jetzt, so, so… „ er suchte nach den richtigen Worten. „So abgeschnitten.. cut.. entwurzelt.. alles was mir einst soviel bedeutet hatte, ist so unwichtig geworden, mit Ausnahme meiner Kinder natürlich und dir.. aber es fühlt sich so verdammt seltsam an. Ich kann nicht mit diesen Gefühlen umgehen.“
Victoria hatte Ansgar aufmerksam zugehört und wusste nicht was sie sagen sollte. Es klang, als hätte Ansgar eine Art Depression, doch sie wollte dieses Wort nicht aussprechen. „Ich möchte einfach nur dass es aufhört, aber es hört nicht auf. Morgens, wenn ich aufwache, dann ist es da, das Gefühl, so dumpf und bohrend, dann fahr ich in die Firma, erledige mehr schlecht als recht meinen Job, esse kaum, fahre zurück, betrinke mich oder starre Löcher in die Luft. So kann es doch nicht weitergehen. Es ist, als würde die Welt sich weiterdrehen aber ich mich nicht mehr mit ihr.“ Ansgar sah Victoria fast hilfesuchend an. „Und ich weiß, dass ich dich sehr verletzt habe, es tut mir so leid, ich wollte das nicht.“ Seine Stimme wurde brüchig. Victoria konnte nicht anders. Sie ging einen Schritt auf Ansgar zu und blieb dicht vor ihm stehen, sah ihn direkt an. „Es ist okay, wir haben ja jetzt geredet“, sagte sie leise. „Nein es ist nicht okay, ganz und gar nicht.“ „Doch, ist es. Ich verstehe dich. Bitte mach dir keine Vorwürfe.“ Sie spürte Ansgars Atem auf ihrem Gesicht und war versucht ihn zu küssen, tat es aber nicht. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Doch er nahm ihr die Entscheidung ab. Sein Gesicht kam dem ihren noch näher, und seine Lippen berührten die ihren vorsichtig. Victoria schloss die Augen. Sein Kuss war anders als sonst, zart, nicht so fordernd, sondern eher zurückhaltend, abwartend, fast unsicher. Victoria spürte wie er sie an sich zog und öffnete ihren Mund damit seine Zunge hineingleiten konnte. Es war Wochen her, wo er sie zuletzt so geküsst hatte, und sie spürte, wie sehr es ihr gefehlt hatte. Langsam zog er sie mit sich Richtung Bett, weiter küssend, sie währenddessen langsam ausziehend. Als Victoria nackt vor ihm stand, sah er an ihr herunter, und sie hatte zum ersten Mal wieder das Gefühl, dass er sie wahrnahm, wirklich wahrnahm. Dann fing sie an, ihn auszuziehen. Alles geschah langsam ohne Hast, ohne animalische Gier, so wie die letzten Wochen. Als Ansgars Boxershorts in die Ecke wanderte, ließ Victoria ihre Hand über seine Schultern und sein Schlüsselbein streichen, ließ sie tiefer wandern, über seine Brust und seinen Bauch, weiter abwärts. Sie ließ ihre Hand zwischen seine Beine gleiten, und Ansgar stöhnte leise auf. Dann zog er sie mit sich aufs Bett und legte sich auf sie. Victoria sah für einen kurzen Moment das Zögern in Ansgars Augen, so als würde er sich bewusst werden, dass nicht Amber sondern Victoria mit ihm im Bett lag, und Vicky wurde klar, dass er sie niemals so ansehen würde wie er Amber angesehen hatte. Dann fühlte sie Ansgar in sich und versuchte, die Tatsache zu verdrängen.
Der Sex war sehr schön, intensiv und liebevoll, und dennoch fehlte etwas. Ansgar wusste es, und Victoria wusste es auch. Als sich Ansgar neben sie gleiten ließ, nahm er jedoch ihre Hand und sah sie an. „Ich bin sehr froh, dass wir geredet haben, und ich bin sehr froh, dass du noch hier bist, bei mir.“ Victoria sah ihn an und konnte nicht anders: „Ich werde immer für dich da sein wenn du es willst, das weißt du. Ich liebe dich.“ Ansgar sah sie stumm an, und drehte sich dann zur Seite. Victoria schossen die Tränen in die Augen. Sie hatte einen Fehler gemacht, doch dann hörte sie Ansgar sagen: „Verzeih mir, aber ich kann das grad nicht. Diese Nähe, die kann ich nicht zulassen. Und ich würde dir gerne das selbe sagen, aber ich kann nicht. Dazu ist zu viel in mir kaputtgebrochen. Ich möchte aber, dass du weißt, dass ich dich auf eine Art auch immer lieben werde, aber vielleicht nicht so ganz auf die Art wie du mich.“ Er drehte sich wieder zu ihr um. „Ich weiß“, sagte sie und strich Ansgar eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Aber ich kann meinem Herz das nicht begreiflich machen.“ Ansgar beugte sich vor und küsste Victoria sanft. „Ich will versuchen, dir nie wieder wehzutun“, sagte er.
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